Die Vereinigung jiddischer Polizisten by Michael Chabon

Die Vereinigung jiddischer Polizisten by Michael Chabon

Autor:Michael Chabon [Chabon, Michael]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-10-25T00:00:00+00:00


25.

TAUSEND GÄSTE, manche von Orten so weit entfernt wie Miami Beach und Buenos Aires. Sieben Container vom Catering Service und ein Volvo-Laster voller Lebensmittel und Wein. Berge von Geschenken, Girlanden und Achtungsbezeigungen, die es mit den Baranof-Bergen aufnehmen können. Drei Tage fasten und beten. Die gesamte Musikantenfamilie der Klezmer, genug für ein halbes Symphonieorchester. Sämtliche Rudashevskys bis hin zum Urgroßvater, der halb betrunken mit einem alten Nagant-Revolver in die Luft schießt. In der Woche vor dem großen Tag eine Schlange von Menschen im Flur, die durch die Tür hinaus-, um die Ecke und zwei Querstraßen die Ringelblum Avenue hinunterreicht, und alle hoffen auf einen Segen des königlichen Bräutigams. Tagsüber und nachts ein Lärm im Haus, als wolle der Pöbel eine Revolution anzetteln.

Eine Stunde vor der Hochzeit waren noch alle da, warteten auf ihn, die Straße voller Hüte und nasser Regenschirme. Unwahrscheinlich, dass er sie so spät noch sah oder ihr Flehen und Wehklagen hörte. Aber man konnte nie wissen. Das Unberechenbare war schon immer Mendels Art gewesen.

Sie spähte durch die Vorhänge auf die Bittsteller, als das Mädchen hereinkam und sagte, Mendel sei fort und zwei Damen wollten mit ihr sprechen. Mrs. Shpilmans Schlafzimmer ging seitlich auf den Hof, doch konnte sie an den Nachbarhäusern vorbei bis zur Straße schauen: Hüte und Schirme, glänzend vor Regen. Juden, Schulter an Schulter, gemeinsam durchnässt in ihrer Sehnsucht, einen Blick auf Mendel zu erhaschen.

Hochzeitstag, Bestattungstag.

»Fort«, sagte sie. Sie wandte sich nicht vom Fenster ab. Sie empfand ein Gefühl von Sinnlosigkeit und Erfüllung, das man aus Träumen kennt. Die Frage war müßig, und doch war es das Einzige, was sie hervorbrachte. »Fort wohin?«

»Niemand weiß es, Missus. Niemand ihn gesehen seit gestern Abend.«

»Gestern Abend.«

»Heute Morgen.«

Am vergangenen Abend hatte Mrs. Shpilman ein Forschpiel für die Tochter des Shtrakenzer Rebbe organisiert. Sie war eine hervorragende Partie. Eine fähige, talentierte Braut, wunderschön und mit einer feurigen Ader, die Mendels Schwestern abging, aber die ihr Sohn an seiner Mutter bewunderte, wie sie wusste. Selbstredend war die Shtrakenzer Braut zwar perfekt, aber nicht angemessen; auch das wusste Mrs. Shpilman. Lange bevor das Hausmädchen kam und sagte, man könne Mendel nicht finden, er sei irgendwann im Lauf der Nacht verschwunden, hatte Mrs. Shpilman gewusst, dass auch noch so viel Talent, Schönheit und Feuer in einem Mädchen ihrem Sohn niemals angemessen wären. Aber irgendein Defizit gab es immer, nicht wahr? Zwischen der Vereinigung, die sich der Heilige Eine vorstellte – gelobt sei Er –, und der realen Situation unter der Chuppa. Zwischen Geboten und deren Einhaltung, zwischen Himmel und Erde, Mann und Weib, Zion und Jude. Dieses Defizit nennt man »die Welt«. Erst mit der Ankunft von Messias würde diese Bresche geschlossen werden, würden alle Trennungen, Unterscheidungen und Zwischenräume in sich zusammenfallen. Bis dahin vermochten – Seinem Namen sei Dank – nur Funken, helle Funken, diese Schlucht zu überspringen wie zwischen elektrischen Polen. Und der Mensch musste dankbar sein für ihr flüchtiges Licht.

So hatte sie es Mendel nahelegen wollen, falls er sie je um Rat fragen sollte, was seine Verlobung mit der Tochter des Shtrakenzer Rebbe anging.



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